Was wir von Haien, Knochen und Schleimpilzen lernen können: Bionik in Industrie und Materialdesign

 

Treibstoffsparende Flugzeuge, die wie Raubfische anmuten, stabile Leichtbau-Konstruktionen in Bienenwaben-Form oder der Klettverschluss, der von den Früchten der Klette inspiriert wurde: All diese Beispiele lassen sich unter dem Begriff Bionik zusammenfassen – das Übertragen von Phänomen aus der Natur auf die Technik.

Bionik hat sich bereits seit Langem als Forschungsfeld und fester Bestandteil unseres Alltags etabliert. Der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) definiert Bionik als „Forschungs- und Entwicklungsansätze (…), die ein technisches Anwendungsinteresse verfolgen und auf der Suche nach Problemlösungen, Erfindungen und Innovationen Wissen aus der Analyse lebender Systeme heranziehen und dieses Wissen auf technische Systeme übertragen.“


Das Ziel ist klar: Indem Ingenieure sich an biologischen Vorbildern orientieren, wollen sie kreative und effiziente Lösungen für technische Herausforderungen finden. Sie setzen darauf, dass die Natur in Milliarden Jahren der Evolution bereits eine Lösung für ihr Problem gefunden hat. So wollen sie zum Beispiel Produkte und Materialien leichter und langlebiger machen. Darüber hinaus hoffen sie, Rohstoffe und Kosten einzusparen – denn niemand setzt Ressourcen und Energie so effizient ein, wie die Natur.


All diese Gedanken entstammen nicht der Gegenwart, sondern haben ihre Ursprünge bereits im späten Mittelalter. Kleiner Exkurs? Gerne.

Da Vinci, die Vögel und der Biology Push

Ein Pionier im Bereich der Bionik war der legendäre Universalgelehrte Leonardo da Vinci (1452-1519). Er beobachtete und studierte das Flugverhalten von Vögeln und Fledermäusen und versuchte, seine Erkenntnisse in die Entwicklung von Fluggeräten einfließen zu lassen. Leider war damals die Stabilität von Materialien noch nicht ausreichend, um den Traum vom Fliegen real werden zu lassen. Und doch war Da Vinci bereits damals bewusst:

 

Der menschliche Schöpfergeist kann verschiedene Erfindungen machen (…),
doch nie wird ihm eine gelingen,
die schöner, ökonomischer und geradliniger wäre als die der Natur,
denn in ihren Erfindungen fehlt nichts, und nichts ist zu viel.

 

 

Skizzen und Notizen von Leonardo Da Vinci zum Flugverhalten der Vögel.

Ausschnitt aus dem „Kodex über den Vogelflug“ von Leonardo Da Vinci, zu sehen in der Bibliotheca Reale in Turin.

 

Da Vincis Herangehensweise nennt man heute Biology Push. Dabei nehmen Ingenieure Erkenntnisse aus der Biologie als Ausgangspunkt, um technische Lösungen zu entwickeln. Beispiele dafür sind der Klettverschluss und der von Lotosblüten inspirierte Lotus-Effekt®  für selbstreinigende Oberflächen. Das Gegenstück zum Biology Push ist der sogenannte Technology Pull: In diesem Fall gehen die Ingenieure von einer technischen Problemstellung aus und suchen in der Natur eine Lösung. Ein gutes Beispiel hierfür ist eine Anti-Fouling-Beschichtung für Schiffe, die vor Algen- und Muschelbewuchs schützt. Dieser Anstrich wurde der Haut von Haien nachempfunden, die weitgehend immun gegen Schädlinge ist. Und das ist noch nicht alles, was wir uns beim Hai abschauen können …

 

 

Weitere Beispiele aus der Bionik:

Mit Hai-Technologie zum Weltrekord: Im Jahr 2000 kraulte Schwimmstar Ian Thorpe beim Weltcup in Berlin zu einem neuen Weltrekord. Der Clou: Thorpe trug während des Wettkampfs einen Ganzkörperanzug, dessen Material ebenfalls der Haut von Haien nachempfunden wurde. Die Oberflächenstruktur aus vielen kleinen „Zähnchen“ verringerte den Reibungswiderstand im Wasser und sorgte womöglich für den entscheidenden Vorteil im Kampf um die Bestzeit.

Knochen als Vorbild für den Leichtbau: Dass sich die Bienenwabe als Musterbeispiel für durchdachten Leichtbau etabliert hat, vor allem im 3D-Druck, ist sicher bekannt. Doch auch wir Menschen leisten einen wertvollen Beitrag zu diesem Thema – und zwar mit unserem Körper: Gustave Eiffel nahm sich die Struktur der menschlichen Knochen zum Vorbild, die von unzähligen Hohlräumen und feinen Knochenbalken geprägt ist. Diese stabilisieren genau dort, wo Belastungen einwirken – Materialeffizienz on point! Und so konzipierte der Franzose Ende des 19. Jahrhunderts den Pariser Eiffelturm mit der markanten rippenartigen Konstruktion.

Schleimpilze für effizienteren Verkehr: Der Schleimpilz (Physarum polycephalum) gehört zu den ältesten Lebensformen unseres Planeten. Eigentlich ist er kein Pilz, sondern ein Einzeller. Klingt primitiv, ist aber genau das Gegenteil: Bei der Suche nach Nahrung breitet sich der Schleimpilz netzförmig aus – und erkennt dabei immer die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten. Die Knotenpunkte seines Geflechts sind so minimal ausgeprägt wie nur möglich. Wir sprechen hierbei also von Leichtbau und einem perfekten Navigationssinn. Das macht den Schleimpilz vor allem für die Planung von effizienten Verkehrssystemen interessant.

 

 

Die netzförmige Struktur eines Schleimpilzes

Musterbeispiel für perfekten Navigationssinn: die netzförmige Struktur des Schleimpilzes.

 

 

Diese MISUMI-Produkte haben Vorbilder in der Natur

Gel-Dämpfer reduzieren Vibrationen. Nach dem gleichen Prinzip funktionieren Bandscheiben in der Wirbelsäule – auch sie sind mit einem Gallertkern gefüllt.

 

 

 

Saugnäpfe können Dinge durch Unterdruck temporär an glatten Oberflächen befestigen. Zahlreiche Meerestiere wie Oktopusse oder Schiffshalter nutzen die gleiche Methode.

 

 

 

Klettbänder dienen dazu, zwei Gegenstände reversible zu verbinden. Ihr Erfinder, der Schweizer Georges de Mestral, ließ sich von Früchten inspirieren, die er im Fell seiner Hunde fand.

 

 

 

Gewindestifte mit Kugelgelenk schaffen eine in alle Richtungen bewegliche Verbindung. Auf die gleiche Art funktionieren Schulter- und Hüftgelenke bei Menschen und Tieren.

 

 

 

Objektive fangen Licht ein, um es auf einen Sensor zu richten – genau so, wie die Linse des Auges Licht auf die Netzhaut wirft.